An Inner Song . 12 Portraits

Das Lied klingt im Bild. In den 12 Portraits von Nadine Ethner klingt der Blick der Fotografin ins Innere der Portraitierten an. Die konstruktive Interferenz der Begegnung von Künstlerin und Modell im Raum wird in den Portraits spürbar und entfaltet als Triptychon vor dem Auge der Rezipienten die Menschmagie, die ihr Inneres, ihre Mitte, zwiefach geschützt hatte. Dreigefaltet verborgen, schirmt sich die Mitte ab, gewinnt sie Zuflucht. Dreiansichtig geöffnet, gibt sie die Obhut auf, bleibt aber geschützt. Denn mit der Akzentuierung der Mittelachse durch die flankierenden Ansichten erhebt sich die zentrale Darstellung ins repräsentativ Überhöhte. Wie bei einem Vogel, der seine Flügel ausbreitet, entfalten sich die Portraits, zeigen Einheit und Vielheit in unauflösbarer Spannung und werden zum Bild der Trinität. In der göttlichen Trinität aus dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist ist ER drei und sie sind EINER. In jeder Dreierfolge der fotografischen Portraits ist SIE drei und sie sind EINE.

In ihrer Eindringlichkeit erinnern die Fotos an Gemälde von Frida Kahlo und Paula Modersohn-Becker, in denen sich die ambivalente Lebendigkeit ägyptischer Mumienportraits zur weiblichen Ikonenmalerei steigert. Mit der Dreiansichtigkeit eines Portraits verknüpft ist auch das zum Tricephalus verschmolzene Dreigesicht als Bild der Antitrinität. So steht die dreiteilige Anordnung in ihrer minimalistisch-symmetrischen Vollkommenheit für Gut und Böse. Davon entfernt betrachtet, isolieren sich die Einzelbilder zu diesseitigen Portraits, deren souveräner Realismus viel mit den von einem agnostischen Blick getragenen Frauengemälden Christian Schads gemeinsam hat. Prägung erfährt dabei der künstlerische Impetus bei beiden von einer distanzierten Empathie, die stets darauf bedacht ist, die Anteile von Schauen und Erschaut werden auszubalancieren. Ohne die Strahlkraft und den inneren Klang der Portraitierten dem eigenen künstlerischen Ausdruck opfern zu wollen, werden sie dabei zum Spiegel der künstlerischen und individuellen Entschiedenheit. Nadine Ethners Fotografien, deren Wirkmacht ohne die ausgewählte individuelle Präsenz ihrer Protagonisten undenkbar wäre, transferieren eine ästhetisch-philantropische Emphase, deren Prägnanz in den Modellen ihre idealen Trägerinnen findet.

Kleine, in Scharnieren bewegliche, verschließbare Elfenbeinbilder aus Byzanz gaben die Vorlage zum Triptychon, dessen Gestalt die Fotografin für die Präsentation der Portraits wählte. Es ist das jedem vertraute christliche Bildschema, dessen Wurzeln in die Götterdarstellungen der heidnischen Antike reichen. In der Anbetungsszene der Deësis gruppiert es die beiden stets in leichter Seitenansicht wiedergegebenen Interzessoren Maria und Johannes zu den Seiten Christi, der die erhöhte und thronende Position im Zentrum der Komposition einnimmt. Eine Komposition, die aus drei Figuren besteht und häufig auf Triptychen Darstellung fand. Der Abstufung der Realitätsebenen entsprechend waren die Außenseiten der Flügel häufig mit Grisaillemalereien versehen. Nur zu bestimmten Zeiten wurden die Flügel geöffnet, um mit Ansicht der zentralen Darstellung eine Bedeutungssteigerung zu erreichen. Zugleich agierte das Bildwerk selbst und mithin die Beteiligten der Szenerie und stellte seine Wandelbarkeit unter Beweis. Die drei Ansichten der Portraitierten beanspruchen in der Anordnung Nadine Ethners Symmetrie und Raum für sich allein und emanzipieren sich so vom religiösen Bildinhalt des überlieferten Schemas.

Ist das Bild der Name des Liedes? In der triptychonalen Darstellung einer Person erreicht das Portrait die Variationen der Ansichtigkeit, die den differenzierten Farben des inneren Klangs gleichen. Entstammen Gestus und Physiognomie der gemeinsamen Regie von Fotografin und Modell, so bleiben Tiefe und Abgründe als Quellen des Klangs nicht nur bewusst unausgeleuchtet, sondern zeigen sich ästhetisiert. Nadine Ethner lüftet mit ihren Fotografien nur einen Schleier vor dem spirituellen Halbdunkel der Portraitierten und schafft zur selben Zeit neue magische Ansichten, die zwischen artifizieller Sachlichkeit und magischer Transzendenz changieren. Ihr Interesse galt stets dem Unergründlichen – in der Natur, der gestalteten Umwelt, in der Stadt, der Frau. Auf der Suche nach den sichtbaren Formen des Unsichtbaren versucht sie die Interpretation des Unangetasteten. Eine Suche, die sich permanent mit dem Verschwinden und Ausweichen vor dem Ostentativen und Grellen auseinandersetzen muss. Dabei gelingen Nadine Ethner Bilder voll dunkler Kraft. Metaphysische Konturen gewinnen in ihnen eine ästhetische Materialität, die sie von ihren herkömmlichen Plätzen im Bildgedächtnis löst und ihnen ohne jede geistlose Esoterik wieder zu der sich aus einer fernen Erinnerung speisenden Spiritualität verhilft, die sie schon schienen, aufgegeben zu haben.

In ihrer flagranten Erscheinung vor dem Grisaillegrund muten die farbigen fotografischen Momente an, der Zeit enthoben zu sein, ohne sich der Inszenierung unterordnen zu müssen. Ihre Manifestation muss sich nicht gegen die Inszenierung wehren, sondern nimmt sie auf und wirft sie mit eigenen Mitteln zurück. Die Modelle begegnen dem weiblichen Blick durch die Kamera und dem analytischen Blick des Betrachters mit gravitätischer Grandezza, Neugier und Distanz. Oder sie entziehen sich ihm mit der Sicht ins Innere. Dort klingt ein Lied.

Guido Siebert, Kunsthistoriker  

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Chor 

Maria Magdalena, 
von den Engeln in den Himmel gehoben, 
den Engelschören zu lauschen, 
dein Büßerleben, 
Maria Magdalena, 
zu versüssen. 
Magda, bist du wach? 
Hörst du uns, Magda? 
Ach, gebt mir nicht immer so klebrigen Eierlikör zu trinken? 
Wir nicht, Magda Du träumst wirklich, Maria Magdalena! 
Hört auf, mich so zu nennen! 

Samia Guemei