THE SMILE OF GRAY

The wind has sanded down the sky, and fine gray is floating down on all sides. The atmosphere takes on soft, shifting shades of green, blue and red. Lots of good things can be said about the colors of the Baltic Sea, but don’t think the sun made them so faint and bleached out. On the contrary, it just brings this pastel palette to life.

The aesthetics of Romanticism play an integral role in Nadine Ethner’s long-term multimedia project Baltic Sea. The sensory perception that the viewer has while looking at the photographs creates an inner image that condenses into a kind of synthetic perception. We encounter an impressionistic gesture that rests on a large number of singular conceptual nuances. Put another way, Baltic Sea takes the diverse colors of the countries, people and cultures surrounding this small gray-blue sea in the north and puts them into an aesthetic context.

The color underlying it all (white, baltas in Lithuanian) manages to unite even the most disparate languages and characters. This white gives calligraphic nuances and cryptic special characters the appearance of interwoven lettering. It may sound clichéd, but the wide variety of cultures and ethnicities around the Baltic Sea make it nothing less than the Mediterranean of the north.

The project uses multiple narrative threads. It looks at the borders between coastal states and examines the dividing lines between water, land and air. It glances to the side to see the fragile, highly unpredictable ecosystem produced by the water’s low salinity and oxygenation. In a half documentary, half abstracting visual language, it refers to the ambivalence of amber and white phosphorus, an irritant found in leftover munitions swept up onto the shore that looks so similar to the golden fossilized tree resin. It’s hard to imagine, but this calm and peaceful sea was once an uncrossable minefield.

Yes, there is more to these idyllic white beaches and vast expanses of blue-gray water than meets the eye. One should remember this when looking into the images for something unambiguous, precise or enduring. That something certainly does exist, but it is in a barely perceptible state of flux that sweeps over and beyond the images in long waves, altering their meaning and sense. The only solid quantity or foundation that remains is the smile of the color gray.

Stephan Reisner


LÄCHELNDES GRAU

Der Wind hat den Himmel abgeschliffen, von überall rieselt feines Grau herab. Mit einem Mal nimmt die Umgebung weiche grünliche, bläuliche oder rötliche Tönungen an. Man kann viel über die Farbpalette des Ostseeraums schwärmen. Nur eines darf man nicht glauben, die Sonne hätte irgendetwas zu verantworten an den weichen ausgeblichenen Farbtönen des Baltischen Meeres. Im Gegenteil, sie bringt das weiße Lächeln des Ostsee-Pastells erst zum Strahlen.

Als Langzeitprojekt angelegt und in multimedialer Form ausgearbeitet, spielt die romantische Wahrnehmung in Nadine Ethners Baltic Sea eine konstituierende Rolle. Der sinnliche Eindruck, den der Betrachter über die räumlich angeordneten Fotografien erfährt, lässt ein inneres Empfindungsbild aufsteigen, das zu sich zu einer synthetischen Wahrnehmungsform verdichtet. Wir begegnen einem impressionistischen Gestus, der auf einer Vielzahl konzeptioneller Einzelnuancen beruht. Anders ausgedrückt: Rund um dieses kleine graublaue Binnenmeer des Nordens existiert eine mehrfarbene Palette an unterschiedlichen Ländern, Menschen und Kulturen, die in dem Projekt Baltic Sea ins ästhetische Verhältnis gesetzt sind.

Der alles grundierende Farbton (oder das Weiß – wie es im Litauischen heißt: “Baltas”) hält selbst unterschiedlichste Sprachen und Schriftzeichen zusammen. Er lässt kalligraphische Feinheiten und kryptische Sonderzeichen als verschlungene Schriftfiguren erscheinen. Es mag irritierend klingen, aber die Ostsee war und ist in ihrer kulturellen und ethnischen Vielfalt womöglich nichts anderes als das Mittelmeer des Nordens.

Das Projekt nimmt mehrere Erzählstränge auf. Es interessiert sich für die Grenzen zwischen den Anrainerstaaten und untersucht die Scheidelinien von Wasser, Land und Luft. Es wirft Seitenblicke auf das sensible ökologische System, das durch seinen geringen Sauerstoff- und Salzgehalt hochgradig instabil ist. Es verweist in seiner halb dokumentarischen, halb abstrahierenden Darstellungsform auf die Ambivalenz von Bernstein und weißem Phosphor, jenem leicht entzündlichen Munitionsrestmüll, der dem edel gehärteten Naturharz so ähnlich sieht und an die Küsten gespült wird. Man mag es sich kaum vorstellen, aber dieses so friedliche, so selten aufbrausende Meer war einmal ein hochexplosives, unbefahrbares Seeminenfeld.

Die Idylle von weißen Sandstränden und blaugrau gestrichenen Seeweiten kann also täuschen. Dies gilt es zu bedenken, wenn der Blick auf die Suche nach etwas Eindeutigem, Bestimmten oder Dauerhaften in den Bildern geht. Es ist durchaus vorhanden, aber zugleich einem steten Wandel unterworfen, der kaum spürbar in langen Amplituden über die Bilder hinweg schweift und sie in ihrer Bedeutung und in ihrem Sinn variiert. Nur eines bleibt als unveränderliche Größe oder Basis bestehen: Das Lächeln der Farbe Grau.

Stephan Reisner