ZWÖLF WELTEN

„ZWÖLF WELTEN exposure twelve — zeitgenössische Fotografie“

Wo sich zwölf zusammen zeigen, wird der Betrachter der dreizehnte sein. Den einen Standpunkt der zwölf zu nennen, ist schwer, unnötig auch. Möglich, daß es ihn gibt — wenn, stellt er sich im Auge des Betrachters her. Wir sind es, die den Fotografen über ihre Schulter schauen, wir sind der verlängerte Blick, der sieht, was sie gesehen haben und mehr. Das Mehr ist, was ein Foto ausmacht für uns. Was die Verschiedenheiten bündelt, ist der sichtbare Versuch der zwölf, an Unberührbares zu rühren: an verdeckte Welt zu rühren, eine Welt unter der Welt, etwas, das lebt unter dem, was wir leichthin als wirklich bezeichnen, sichtbar nur im Augenblick, den der Fotograf mit dem Auslöser aus dem Flüchtigen schneidet wie die letzte Parze, Morta mit der Schere, den Schnitt macht, wann sie es will. Der Ausschnitt ist das Bild, das bleibt, die eine Wirklichkeit für sich. Er ist die Welt, die gegen die Welt zu halten ist, sobald der Fotograf sie freigibt. Die Freigabe ist die Positionsbestimmung. Sie ist als das Anliegen der zwölf Bildproduzenten zu sehen: ihre Arbeit, die sie als gemeinsame verstehen, als fotografische Positionen bezeichnen, deren Schnittmenge immer neu und wieder neu zu finden sein wird.

exp12 — die vielfache in exposure wohnende Bedeutung des sich Ausstellens, sich Aussetzens (der Öffentlichkeit, einer Gefahr, dem Licht usw.) ballt die Behauptung des fortwährenden Experiments, einer fortwährenden fotografischen Expedition in ein Wort; einen Stummel von Wort, der durch die folgende Zahl weniger konkretisiert als aufgefächert wird. So treten sie auf als fotografisches Dutzend oder die zwölf Jünger der Fotografie, die ihren Blick über die Gegenwart streuen wie Scouts auf der Suche nach dem Zugang (einem der Zugänge) zur wirklichen Welt. Wir werden auch durch die zwölf nicht erfahren, was der Grund der Wirklichkeit ist. Was das Auge sieht ist der Grund. Die Fotografie ist die bildgewordene idealistische Philosophie. Das vollkommene Bild ist das virtuelle, digitale, zusammengesetzte, gefälschte, das totale Bild. Das echte Bild gibt es nicht, konkret ist nicht der Inhalt, konkret ist die Form.

Konkret sind Namen, Namen sind: Blank, Brunner, Deiss, de Longueville, Eberle, Ethner, Fischer, Krause, Laude, Meschiari, Schneider, Woischwill. Die mit den genannten verketteten Umstände — vorgestellt zunächst auf einem Blatt Papier (300 x 400, gefaltet zu 100 x 100 mm) — hießen in ein Wort gefaßt: Distanz. Deutlich in der Spannung von Anwesenheit/ Abwesenheit, die die erste Auswahl der zwölf zeigt. Oft scheinen sie überfern vom Gegenstand, dann wieder übernah, zentriert, wo der Fotograf eins wird mit seinem Objekt. Die Wahl des Standpunkts ist zugleich auch der Zweifel am Standpunkt, das Denken darüber die philosophische Geste der Fotografie. Die schwer auf einen Nenner zu bringenden zwölf treten als Exponenten eines Blickwinkels auf, er legt das Ungewöhnliche im Gewöhnlichen bloß. Der Effekt des Fremden entsteht weniger durch technischen Zugriff (Manipulation des Bildmaterials) als durch die Positionsbestimmung der Fotografen gegenüber dem jeweiligen Objekt. Das Wappentier der zwölf könnte das Pferd (Foto Olle Fischer) sein, in die Bildmitte gepflanzt wie ein Stempel quer über den Goldenen Schnitt, dem sich das Arrangement (oder sein Ausschnitt) verweigert. Der Anspruch, den die Figur ins Zentrum wuchtet, steht für das, was ein Foto zuallererst ist: eine Abkürzung von Photographie, dem Schreiben, dem Zeichnen mit Licht. Die Abkürzung (oder der Ausschnitt) wird in die Mitte der Wahrnehmung gerückt, aus der sie kein Steinwurf, kein saurer Regen, kein Schuß, kein Schrei, kein Peitschenknall nimmt.

Andere nehmen anderes wahr. Die Interieurs (Claire Laude) der kleinen Läden und Geschäfte, Abbilder von Arbeit, die es — erstaunlich — um uns noch gibt; auch hier hält die Kamera ins Zentrum des Vorgangs, der Ruhe formuliert und Ordnung, wie wir sie sonst vielleicht nicht wahrgenommen hätten. Oder die Farbstudien an freier und unfreier Natur (Nadine Ethner), die Stillleben einer depravierten Flora sind, die nur für den Fotoapparat noch vegetiert. Die Studie am bewegten Körper (Oona Eberle), der, vorausgesetzt, man rückt ihm nah genug auf den Leib, den Tanz der Moleküle wiedergibt, schön und vergänglich wie die Flocke Schnee auf der Hand. Die schwarzweiß gehaltene Projektion einer Abwesenheit in die offenstehende Tür (Anna Meschiari), die den Schatten beschwört, Geburtshelfer der Fotografie, oder der Traum von einem Zirkus am Fuß der Alpen, der auch ein Traum von Farbe ist, ein Traum von Fotografie, ext./int., und die frühen Collagen der Pop Art wie aus einem somnambul verlorenem Gedächtnis zitiert: “Was macht eigentlich unsre Umwelt heute so anziehend, so anders?” Oder die Bestandsaufnahmen einer zivilisatorischen Gegenwart (Birgit Krause), die ihre Urzeit gerade neu erfindet, gegen die Rückbilder (Dorothee Deiss) einer sich aus dem Staub machenden Welt, die für uns vor allem eins übrig hat, Verfall. Abraum zu Abraum; daß er hier als Schauspiel registriert wird, kann uns nicht trösten. Oder die verlorene Kreatur, ob Mensch ob Tier, unterfordert und fremd im jeweiligen Gehege (Verena Blank), unwirklich schön wie das Seestück mit Steilküste, Wiese und Schafgefleck hinter dem Fenster, vor dem sich die weiße Geranie behauptet, Zitat gegen Zitat, wie die Blüte am Höhenleitwerk vor dem Hangar, wie zwischen zwei Sonnen eine Welt, die unter einem Ring aus Neon sich für einen Palmenblick öffnet, eine Lagune, die so echt wie ein altberliner Hinterhof ist und genauso falsch wirkt. Oder die Kunstlichtverliebtheiten (Nicole Woischwill) und das vom Routemaster durch London geschleifte halbnackte Paar, das für die Fortpflanzung in Jeans wirbt und das genmanipulierte Ende der Menschheit vorwegnimmt. Die verschiedenen Verlorenheiten am Bosporus (Mark de Longueville), das Mädchen in Turnschuhen, die ihr nicht helfen, die wirkliche Welt zu betreten, weil ihr (und uns) nicht klar ist, welche die wirkliche Welt von mindestens zweien, durch mindestens eine Projektionsfläche getrennt, ist. Die ihre Wege wie fremdbestimmt Gehenden (Susanne Schneider), die nur so wahrzunehmen sind: der Menschheit auf die Füße geguckt, nicht aufs Maul. Oder die an unserer Rückseite oder die, deren Rückseite wir sehen (Eva Brunner), Spuren von ihnen, Reste von ihnen, Streiflichter, Schatten, Pochoirs, verwaschne Tatoos auf der Erdoberfläche, einer Fläche über der Fläche; tempi passati, wenn wir zurückkommen, lesen wir da, dann als Foto, das ist es, was wir uns merken, das ist es, was bleibt.

Kunst ist Form, Form ist Fläche, Verpackung. Daß die Risse in ihr der Zugang zur wirklichen Welt sind, sehen wir hier. Soviel zum ersten. Alles weitere von jetzt an dem Kalender nach alle Monate, Monat um Monat, zwölf um zwölf. 

Thomas Martin 7.1. 2010